Nach dem Zerfall der Sowjetunion waren die 1990er Jahre geprägt von wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umwälzungen. Hierzu zählte auch die Privatisierung von russischem Staatsvermögen, aus der größtenteils das „Oligarchentum“ hervorging. Nun – nach über 30 Jahren – werden viele dieser Privatisierungen, meist durch die russischen Staatsanwaltschaften, angefochten und gerichtlich die Rückgabe an den Staat verlangt – oft mit Erfolg.
Dies kommt für viele recht überraschend – zumal es Verjährungsfristen gibt und das Thema eigentlich als abgeschlossen galt. Die Staatsanwaltschaften berufen sich in ihren Anträgen meist auf schwerwiegende Verstöße gegen das damals geltende Privatisierungsrecht und Zuständigkeitsfragen. In vielen Fällen geht es auch um Korruptionsfragen. Das russische Verfassungsgericht fällte in 2024 ein wichtiges Urteil zu Verjährungsfristen. Das Oberste Gericht entwickelte neue Ansätze für die Prüfung von „Anti-Korruptions-Ansprüchen“. Die meisten Fälle wurden bisher zugunsten des Staates entschieden. Aber in einigen Fällen lehnten die Gerichte in 2024 zum ersten Mal Anträge der Staatsanwatschaft ab, ebenso in einem Urteil vom 16. Januar 2025.
Ein wichtiger praktischer Fall, den einige Juristen als „Wendepunkt“ in der Gerichtspraxis sehen, betrifft die Entscheidung des Zivilkollegiums des Obersten Gerichts im Fall der Beschlagnahme des Iseti-Werks des Uraler Unternehmers Malik Gaisin (Nr. 45-KG24-6-K7) aus dem Sommer 2024. Darin hat sich das Oberste Gericht zum ersten Mal ausführlich mit der Anwendbarkeit von Verjährungsfristen und zur Unzulässigkeit einer rückwirkenden Anwendung der Bestimmungen von Artikel 235 Abs. 2 Unterabsatz 8 des russischen Zivilgesetzbuches auseinander gesetzt, der regelt, dass die Beschlagnahme von Vermögen durch Gerichtsentscheidung zulässig ist, wenn nicht nachgewiesen wird, dass der Erwerb aus rechtmäßigen Einkünften gemäß den Gesetzen über Korruptionsbekämpfung erfolgt ist. Dieser Unterabsatz wurde erst im Dezember 2012 eingeführt.
Die Generalstaatsanwaltschaft forderte im Fall Iseti die Rückübertragung der Aktien an den Staat und meinte, die Rückübertragungsansprüche wären nicht verjährt. Das Oberste Gericht vertrat aber den Standpunkt, dass die Auffassung der Staatsanwaltschaft, dass die Verjährungsvorschriften des Zivilgesetzbuches auf die in diesem Fall geltend gemachten Ansprüche nicht anwendbar seien, der Rechtsauffassung des russischen Verfassungsgerichts widerspreche. Der Rechtsstreit wurde zur erneuten Prüfung an die untere Instanz zurückverwiesen, die wiederum der Staatsanwaltschaft wegen der Verstöße des Beklagten gegen Korruptionsvorschriften am Ende recht gab.
Der Fall Ivanovo Heavy Machine-Tool Plant (Nr. A17-1139/2024) hat ebenfalls für Aufsehen gesorgt. Das Arbitragegericht der Region Ivanovo gab der Klage der Generalstaatsanwaltschaft Ende März 2024 statt. Doch bereits im September hob die 2. Kammer des Arbitragegerichts die Entscheidung auf und stimmte der Auffassung des Beklagten zu, dass das betroffene Unternehmen kein Rüstungsunternehmen sei und nicht in der Liste der Organisationen des militärisch-industriellen Komplexes aufgeführt ist. Daher habe es keiner Privatisierungsentscheidung auf föderaler Ebene und einer Abstimmung mit der Regierung bedurft, daher auch kein Verstoß gegen Privatisierungsrecht. Die Berufungsinstanz vertrat außerdem die Meinung, dass Verjährung eingetreten sei. Außerdem sei die Berufung auf Verjährung durch den Beklagten nicht rechtsmißbräulich gewesen, da das Privatisierungsverfahren ordnungsgemäß durchgeführt worden sei und auch ein reeler Kaufpreis gezahlt worden sei. Dies war damit der erste Fall, indem ein Gericht eine Klage der Staatsanwaltschaft abgewiesen hat. Die Staatsanwaltschaft hat daraufhin die Kassationsinstanz angerufen.
Am 16. Januar 2025 hat nunmehr die Kassationsinstanz die Klage der Staatsanwaltschaft erneut abgewiesen (Aktenzeichen 144/2025-76/1). Diese Entscheidung kann nunmehr innerhalb von zwei Monaten vor dem Obersten Gericht der Russischen Föderation angefochten werden.
Somit gibt es derzeit eine gewissen Tendenz, dass die allgemeinen Verjährungsregeln auch auf Privatisierungsverfahren anzuwenden sind. Aber die Entscheidung des Obersten Gerichts bleibt abzuwarten. Streitig ist in den Gerichtsverfahren aber oft der Verjährungsbeginn. Die Staatsanwaltschaft hat häufig argumentiert, dass die Verjährung erst mit ihrer – aktuellen - Kenntnis vom Verstoß gegen Privatisierungsvorschriften beginnen würde - und dies über 30 Jahre nach der Privatisierung unter Beteiligung staatlicher Stellen.
Am 31. Oktober 2024 erließ das russische Verfassungsgericht allerdings ein weiteres wichtiges Urteil Nr. 49-P, das die Spielregeln für Streitigkeiten über Verjährungsfragen wiederum erheblich veränderte. Das Verfassungsgericht kommt darin zu dem Schluss, dass Verjährungsfristen nicht zur Verteidigung gegen Ansprüche der Staatsanwaltschaft auf Rückübertragung von Vermögenswerten gelten, die infolge von Verstößen gegen Vorschriften zur Korruptionsbekämpfung erworben wurden. Kurz: Bei kriminellen Machenschaften der beteiligten Beamten zulasten des Staates gilt keine Verjährung für die Rückabwicklung von Privatisierungen. Ähnlich hatte das Verfasssungsgericht schon in seiner Verordnung Nr. 20-P vom 20. Juli 2011 argumentiert, in dem es die Verjährungsfristen für unanwendbar erklärte, wenn dies zum Schutze der Rechte und Freiheiten der Bürger, aber auch für einen gerechten Ausgleich zwischen öffentlichen und privaten Interessen, basierend auf den Prinzipien der Gerechtigkeit, Gleicheit und Verhältnismäßigkeit, für zulässig zu erachten sei.
Trotzdem kann wohl vermutet werden, dass die Staatsanwaltschaften versuchen werden, dieses Tor zur Aushebelung der Verjährungsvorschriften zu nutzen, gerade jetzt, wo die Gerichte tendenziell von einer Anwendbarkeit der Verjährungsvorschriften auf die Privatisierungsverfahren auszugehen scheinen. Wohl nicht ganz ohne Grundlage. Denn verbreitet Meinung ist, dass es bei den Privatisierungen in den „wilden“ 1990zigern nie mit „rechten Dingen“ zugegangen ist. Dies ist ein Makel, der den „Oligarchen“ in der Öffentlichen Meinung seit jeher anhaftet.
Am 29. Januar 2025 hat die russische Generalstaatsanwaltschaft auch die Übertragung der Anteile am Moskauer Flughafen Domodedowo – dem zweitgrößten der Hauptstdt - an den Staat beantragt. Über die Anteile wurde vom zuständigen Gericht ein Arrest verhängt. Die Staatsanwaltschaft wirft den Domodedowo-Eigentümern Dmitrij Kamenschtschik und Walerij Kogan vor, als ausländische Staatsbürger ohne besondere Erlaubnis ein strategisches Unternehmen in Russland zu besitzen und somit gegen das Föderale Gesetz Nr. 57 „Über das Verfahren für ausländische Investitionen in Unternehmen von strategischer Bedeutung für die Landesverteidigung und die Staatssicherheit" verstoßen zu haben. Beide besitzen neben ausländischen Staatsbürgerschaften allerdings auch die russische Staatsbürgerschaft. Dies ist ein weiterer Vorstoß, den in privater Hand befindlichen Flughafen zu verstaatlichen. Klagen auf Verstaatlichung gegen die Eigentümer wegen Verstößem gegen die Privatisierungsvorschriften waren vor einigen Jahren gescheitert. Ein weiterer spannender Fall – Ausgang ungewiss.